Bogotás Barrios

Weltweit werden einer immer größer werdenden Zahl von Menschen Einkommen, Nahrung, Wohnung, Bildung und Gesundheitsversorgung vorenthalten. Die Armen sind Opfer unserer Weltordnung im allgemeinen und der kolumbianischen Politik im speziellen.
Oft werden die Armen als gefährlich, als dumm, als unproduktive Schmarotzer und als unorganisiert dargestellt; und zudem sind sie selbst Schuld an all diesem. Doch muss man erkennen, dass sie sehr schöpferisch, kreativ, lebensfroh und reich an Wissen sind was uns Reichen unbekannt ist. Sie sind ein Bestandteil unserer Gesellschaft von dem wir viel lernen können, was aber absolut nicht heißt, dass es erstrebenswert wäre sie von den oben genannten Gütern weiterhin auszuschließen.
Mit einer Gruppe von etwa 15 Studenten verschiedener Fachrichtungen (Politikwissenschaften, Jura, Pädagogik, Philologie, ...) habe ich mit Kindern eines Barrios gearbeitet, indem die Behausungen, äußerlich betrachtet, „ganz ok“ waren; doch die Problematik eröffnet sich mit jedem Schritt den man tiefer ins Barrio eindringt und mit jedem Gespräch das man mit den dort lebenden Menschen führt. Die „Straßen“ erinnern an schlammgefüllte amsterdammer Grachten welche Insekten als ideale Brutstätte dienen und damit Krankheiten verbreiten. Die Arbeiten der Menschen drehen sich um das was wir wegschmeißen: Sie verdienen ihren Lebensunterhalt mit unserem Müll. Glas, Pappe, Plastikflaschen, Dosen, Holz, Stoffe, Elektroteile, organische Abfälle, Metalle uvm. Alles wird gesammelt, transportiert, sortiert und verkauft. Der Transport von den reicheren Gegenden in die ärmeren geschieht durch Karren die per Hand geschoben oder von Pferden gezogen werden.
Durch die spielerische Arbeit mit den Kindern kreieren die Studenten in den ihnen Werte weg vom egoistischem Denken hin zu einem solidarischeren Miteinande. Gleichzeitig lernen sie von den Kindern. Die Studenten begleiten dieses Barrio erst seit zwei Jahren, der Prozess der gegenseitigen Formung hat also gerade erst begonnen. Doch schon sind die ersten Ansätze der Früchte zu erkennen die dieser Prozess (sofern er nicht gestört wird) hervorbringen wird. Ein kulturelles Kennenlernen. Es ist leider sehr wahrscheinlich, dass solche Prozesse, sobald sie eine größere Energie und damit eine größe Macht entwickeln, von Außen versucht werden zu zerstören. Die Paramilitärs kontrollieren die meisten Barrios durch Waffengewalt und lassen nicht zu, dass sich alternative Organisationsstrukturen bilden. Die Gewalt richtet sich in noch massiverem Maße gegen die ärmsten der Armen: Häufig werden Obdachlose durch „soziale Säuberungen“ entfernt, sodass ihre Überlebenskreativität der Menschheit verloren geht.
Einen zweiten Tag bin ich mit einem Jura-Absolventen in ein anderes Barrio gefahren, indem wir die Wohnungslage, die Ernährung und die Geschichten der Menschen erforscht haben. Hier gleichen die „Häuser“ Flickenteppichen aus Holz, Blech, Plastik, Teppich, Ziegeln und anderen Dingen die man als Schutz vor Regen und Wind verwenden kann. Verhältnismäßig zu ihrem Körper haben die dortigen Kinder fast alle zu große Köpfe und sind für ihr alter viel zu klein – Indizien für jahrelange Unterernährung. Manche Tage überdauern sie nur mit Zuckerwasser, an
anderen Tagen essen sie wenigstens zu Mittag und ab und an gibt es auch zwei Essen täglich. Einst lebten sie glücklich auf dem Land, als auch ihr Vater noch bei ihnen war. Sie waren nicht reich, aber sie hatten ihr Haus, ihre Tiere, ihr Gemüse und konnten sich so autonom ernähren. Doch eines Tages kam eine bewaffnete Gruppe (wahrscheinlich Paracos) und verschleppte (und tötete?) den Vater. Es folgte eine Flucht-Odyssey der Mutter mit ihren vier Kindern in die Stadt zu Bekannten, von dort in ein Barrio und nach abermaliger Vertreibung kamen sie auf diesen relativ leeren Hügel am Rande Bogotás. Gegenüber die ständige Bedrohung eines Steinbruchs. Delegierte des Steinbruchunternehmens kündigten schon mehrfach an, dass der Hügel geräumt werden wird, damit auch hier Profit gemacht werden könne – auf Kosten anderer.
Und so wird diese Familie mit vielen Leidensgenossen erneut vertrieben. Selbst ein würdiges Leben in Armut wird nicht zugelassen. Diese Familie gehört zu den mehr als 3,8 Millionen Binnenflüchtlingen Kolumbiens (nach dem Sudan die höchste Ziffer weltweit). Zusätzlich suchen etwa drei Millionen Flüchtlinge Zuflucht im Ausland. Damit sind gut 16% aller Kolumbianer Heimatlose und damit Opfer von einer vom Staat intendierten Vertreibungspolitik, welche die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen durch große Konzerne vorantreiben soll. Die EU fördert diesen Prozess mit „Entwicklungsprogrammen“ und wir profitieren davon – doch nur kurzfristig.